Splitter Verlag

BOUQ & CHARYN – Little Tulip

Gerade bei Comics kann der erste Eindruck sehr täuschen. Das passiert selbst erfahrenen Comiclesern wie mir. Aber dafür gibt es ja zum Glück unsere Reviews, um eine Meinung über das vollständige Comicwerk zu bekommen. Wenn man sich den Comic “Little Tulip” z.B. in einer Leservorschau ansieht, bekommt man unzählige gut gezeichnete, hässliche Menschen in deprimierenden Umgebungen zu Gesicht. Nicht gerade etwas, was mich zum Kauf des Comics bewegen würde.

Aber bei “Little Tulip” täuscht gerade der Ersteindruck gewaltig, denn man erlebt hier eine unglaublich intensive Geschichte mit einem extrem interessanten und ungewöhnlichen Hauptcharakter. Also lasst mich euch in die düstere und aussichtlose Welt des Comics “Little Tulip” entführen.

Handlung

Die Handlung von “Little Tulip” (kleine Tulpe) findet auf zwei Zeitebenen statt: Der Gegenwart in New York im Jahre 1970 und der Vergangenheit in Sibirien Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Hauptfigur ist der Amerikaner Pawel, der ein Tattoo Studio besitzt und als freier Mitarbeiter Phantomzeichnungen für die Polizei anfertigt. In beiden Berufen glänzt Pawel mit einer außergewöhnlichen künstlerischen Begabung, die ihm ermöglicht, den “innersten Geist” von Personen und Dingen zu spüren und diesen zu Papier zu bringen.

In der Gegenwart treibt ein Serienmörder sein Unwesen und bringt immer wieder Frauen auf brutale Weise um, doch die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Doch auch Pawel, der immer ein Gespür dafür hat, nach wem die Polizei suchen muss, steht in diesem Fall völlig ohne eine Ahnung da. Immer wieder im Laufe der Geschichte wandern Pawels Gedanken in die Vergangenheit, wo seine Eltern und er unaussprechliche Ungerechtigkeiten erleiden mussten, doch dort an einem der schlimmsten Orte an dem man in der Menschheitsgeschichte nur sein konnte, lernte Pawel seine Zeichenkenntnisse zu vervollkommnen. Seine Eltern und er sind aus den USA nach Russland gezogen, da sein Vater beim begnadeten russischen Regisseur Sergei Eisenstein Filmdesign studieren will. Durch seinen Vater kam Pawel mit der Kunst in Verbindung und lernte von ihm das Handwerk des Zeichnens.

Als amerikanische Staatsbürger wurden sie eines Tages völlig haltlos verdächtigt, für den Feind zu spionieren und wurden nach Sibirien in ein Gulag zur Umerziehung gebracht. Wer mit dem Begriff nichts anfangen kann: ein sibirisches Gulag steht einem Nazi-Konzentrationslager in nichts nach. Dort angekommen (und der Weg dorthin war schon die Hölle) wurde Pawel von seinen Eltern getrennt und musste sich allein in einer vollkommen neuen, gnadenlosen Umgebung durchschlagen. Er schaffte es jedoch mit seinem Instinkt und vor allem wegen seines Zeichentalents zu überleben und innerhalb der Hierarchie der Verbrecherorganisationen, die die wahren Herrscher innerhalb des Gulags sind, aufzusteigen.

Hier schaffte er es im Laufe der Jahre zum Leibtattoowierer eines Verbrecherbosses (die Verbrecherbosse werden Pachan genannt), einem wichtigen Posten jeder Verbrecherbande, denn Tätowierungen werden hier als Abzeichen, Mitgliedsausweis und Ausdruck von Persönlichkeit besonders wertgeschätzt. Doch nie vergas Pawel seine Eltern und seine Menschlichkeit und versuchte aus diesem Alptraum zu entkommen…

Künstlerisch-philosophische Inhalte und deren Interpretation

Der Autor Jerome Charyn und der Zeichner François Boucq bauen in die realistische Geschichte einen Hauch von Etwas nicht greifbaren, mystischen ein, das sich vordergründig durch die Kunst von Pawel manifestiert. Besonders bei den Tattoos von Pawel oder denen der Insassen im sibirischen Gulag zeigt sich, dass diese nicht nur bloße Körperverzierungen sind, sondern auch vor allem Ausdruck der Persönlichkeit des Trägers. Diese Darstellung findet ihren Höhepunkt in einem Kampf, bei dem wir nur die Tattoos sehen und nicht die Personen, die diese tragen, Trotzdem ist dem Leser klar, was hier gerade passiert und wer daran beteiligt ist, einfach genial! Auch in der Gegenwart der Handlung, im modernen New York, spielen Pawels zeichnerische Fähigkeiten eine ganz besondere Rolle. Besonders wenn die Handlungsstränge aus Vergangenheit und Gegenwart im Finale kulminieren.

Der Comic “Little Tulip” richtet sich eher an ein reifes, erwachsenes Publikum, das sowohl die leicht philosophischen Inhalte des Elementes der Kunst im Comic deuten kann, als auch die zum Teil derben Erotikszenen und drastischen Gewaltdarstellungen ohne Schaden verkraftet.

Zeichnungen

Wie ich in der Einleitung bereits anmerkte, darf man sich von den Zeichnungen in “Little Tulip” nicht abschrecken lassen. Die Qualität der Zeichnungen ist hier gar nicht worauf ich hinaus will, denn an der Kunstfertigkeit des Zeichners François Boucq gibt es nichts auszusetzen, ganz im Gegenteil! Etwas ungewohnt sind nur die dargestellten Inhalte, denn François Boucq zeigt die Personen und das Leben im sibirischen Gulag realistisch und ungeschönt, was zu den hässlichen Charakteren und der tristen Atmosphäre führt. Auch unser Hauptcharakter Pawel ist keine Schönheit, überzeugt aber durch eine Art drahtiges Charisma und einer selbstsicheren Ausstrahlung, die er sich durch unzählige, harte Erfahrungen aneignete. Auch die anderen Charaktere werden sehr abwechslungsreich designt und in Szene gesetzt.

François Boucq verwendet in “Little Tulip” kaum kräftige Farben, nur blasse Töne begleiten uns durchgehend durch den Comic. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf kränklichen Hauttönen und tristem Grau-Braun für die Hintergründe. Insgesamt überzeugen die Zeichnungen auf breiter Fläche und schaffen ein Gesamtwerk von gewaltiger Intensität. Zusammen mit dem Text wird man schon nach kurzer Zeit in die grausame, intensive Welt von “Little Tulip” hineingezogen.

Der Comic

Bei “Little Tulip” handelt es sich um einen Einzelband, der die komplette Geschichte beinhaltet. Mit seinen 88 Seiten fällt das Werk angenehm umfangreich aus. Nach dem Lesen des Comics kann ich zwar durchaus verstehen, warum man sich für den Titel “Little Tulip” entschieden hat, ich hätte hier aber etwas anderes gewählt, was mehr die erwachsene Handlung suggeriert. Warum nicht “Die Präsenz Des Geheimnisses”, einem Begriff mit tragender Bedeutung in der Geschichte?

Am Comic selbst gibt es natürlich wieder absolut nichts auszusetzen, wie ich es vom Splitter Verlag gewohnt bin. Ein Hardcover stützt und schützt die 88 Seiten von “Little Tulip”, die aus einwandfrei bedrucktem, gutem Papier bestehen. Als Bonus finden wir noch ein paar Seiten mit Skizzen des Künstlers François Boucq zu den im Comic auftretenden Charakteren. Des Weiteren finden sich im Anhang Infos zum Künstler François Boucq und des Autors Jerome Charyn sowie deren Werken.

Fazit

Nicht umsonst ist “Little Tulip” für den Preis “Bestes Comicalbum 2015″ auf dem Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême nominiert, denn hier haben wir es mit einem echten Geheimtipp zu tun! Ich werde “Little Tulip” als Werkzeug benutzen, um Comicignoranten zum Comiclesen zu bewegen und bin mir sicher, hier große Erfolge feiern zu können.

Verlag/ Label: Splitter Verlag

Autor: Jerome Charyn

Veröffentlichung: 01.06.2015

Seitenzahl: 88

ISBN: 978-3-95839-135-2

Altersfreigabe: ab 16 Jahren

Webseite: http://www.splitter-verlag.eu/little-tulip.html

Webseite 2: http://jeromecharyn.com/

Webseite 3: http://www.lelombard.com/auteurs-bd/boucq-francois,32.html

Copyright Artikelbild: Splitter Verlag

  • 8/10
    Handlung - 8/10
  • 9/10
    Intensität und Atmosphäre - 9/10
  • 8/10
    Grafische Ausarbeitung - 8/10
  • 8/10
    Charaktere - 8/10
  • 9/10
    Innovation - 9/10
  • 10/10
    Druckqualität und Haptik - 10/10
8.7/10

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