ÉRIK LIBERGE – Monsieur Mardi-Gras – Post aus dem Jenseits

Der eindrucksvolle Comicband “Monsieur Mardi-Gras - Post Aus Dem Jenseits“ des bekannten Comickünstlers Érik Liberge lässt sich in der Tat als Mischung aus dem mehrfach preisgekrönten Computerspiel “Grim Fandango“ und dem wohl wertvollsten Buch der Menschheitsgeschichte, “Die Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri beschreiben, so verrückt das zunächst auch klingen mag. Aber in der Tat verwendet Érik Liberge bei der Ausgestaltung der skelettierten Bewohner seiner eigens erfundenen Jenseitswelt, dem sog. Refrigerium, einen Darstellungsstil der durchaus an die sympathischen Skelette des legendären Adventure-Games von LucasArts erinnert und was den Umgang mit dieser jenseitigen Sphäre und anderen christlich geprägten, religiösen Elementen angeht, so wandert “Monsieur Mardi-Gras - Post Aus Dem Jenseits“ meiner Meinung nach schwer in den Fußstapfen von Dante Alighieris phänomenalen Meisterwerk.

Dabei stellt der Comicband “Post Aus Dem Jenseits“ den Prolog zur Comicreihe “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ dar und bereichert diese im Nachhinein durch weitere esoterische und philosophische Hintergründe. Ich selbst habe vor Jahren den ersten Band “Monsieur Mardi-Gras Unter Knochen - Band 1: Willkommen!“ gelesen und war schon damals schwer von der Optik des Werkes begeistert, die der Comickünstler nun auch für den Prolog verwendet. Und so darf ich Euch heute dieses mit Tusche erstellte, unfassbar intelligent konzipierte Meisterwerk der Comicliteratur vorstellen:

Handlung

Der geheime Berater des Papstes Philibert Etienne hatte von seiner Heiligkeit dem Pontifex Maximus höchstselbst den Auftrag erhalten eine weitere Jenseitswelt neben Himmel und Hölle einzufügen, die als temporäre Bußstation vor der ewigen Erlösung stehen sollte (also das uns bekannte Fegefeuer). Philibert Etienne weigerte sich jedoch den Verbrechern eine zweite Chance im Jenseits zu geben, änderte den Wortlaut des Dekretes und erschuf damit eine Welt ohne jede Chance auf Erlösung, bei der die Insassen für alle Zeit nach dem Tod eingesperrt sein sollten. Der Versuch seines Assistenten Philibert Etienne an diesem wahnsinnigen Vorhaben zu hindern scheiterte und endete mit dessen Ermordung durch Etienne selbst, welcher durch diese schändliche Tat nun als Sünder gebrandmarkt, nach seinem kurz darauffolgenden Tod, selbst in der von ihm erschaffenen Welt ohne Hoffnung strandete. Dort angekommen und all seines Fleisches beraubt blieb Philibert Etienne jedoch nicht lange alleine, denn schon bald darauf füllte sich das sog. Refrigerium, wie diese jenseitige Welt von ihm benannt wurde, mit Sündern aller Art. Darunter waren auch der von ihm ermordete Assistent und der Alchemist, den er für die Ausgestaltung dieses Alptraums angeheuert hatte. Als ungreifbares übersinnliches Element erscheint zudem eine Wesenheit in der Gestalt eines Feuersalamanders, die Philibert zwar über einige Mechanismen und Gesetze der von ihm erschaffenen Welt aufklärt, doch die wahren Intentionen dieser Wesenheit bleiben für ihn zunächst vollkommen im Dunkel verborgen.

Und so bilden sich rund um Philibert Etienne, der sich als Gefangener in seiner eigenen Hölle wiederfindet und deren Entwicklung er mit einer Mischung aus Verwirrung und Selbstzweifel zu beobachten gezwungen ist, aus den unzähligen eintreffenden Menschen die unterschiedlichsten Formen der Gesellschaft, Religionen und Kulte, die allesamt nach einem Weg aus diesem von ihm geschaffenen Alptraum suchen…

Ein Meisterwerk in Schwarz-Weiß (mit Graustufen ?)

Der Prolog von Érik Liberges vierteiligem Comicwerk “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ gibt sich im Gegensatz zum Hauptwerk (zumindest was den Anfang, den ich kenne angeht) ernster und philosophischer, was auch die Stärke dieses Bandes ausmacht. Was Liberge hier an esoterischen, okkultistischen und religiösen Elementen auffährt ist wirklich bemerkenswert und erfreut das Herz der Kundigen in diesen Gebieten, schließlich werden diese Bereiche hier richtig lebendig und intelligent in Form einer wunderbaren Geschichte platziert. In Kombination mit dem einmaligen, tuschegetränkten Look, der zum regelrechten Markenzeichen dieses Comicepos Liberges geworden ist und den nicht weniger eingängigen Skelettcharakteren, wird “Monsieur Mardi-Gras - Post Aus Dem Jenseits“ zu einem der spektakulärsten Comicgeschichten, an die ich je Hand legen durfte.

Ketzerische Skelette und eine nackte Frau (mild Spoiler)

Besonders zu beachten sind bei der Gestaltung des Szenarios vor allem die einzelnen Parteien, die sich aus der ständig steigenden Anzahl der skelettierten Insassen des Refrigeriums bilden. Ein Teil sucht z.B. unter der Führung eines Alchemisten, dem es gelang Kaffeebohnen (diese sind ein ganz wichtiger Bestandteil in Érik Liberges knochenlastigem Comiczyklus und sind in der Lage bei den Verstorbenen rauschartige Erinnerungen an ihr vergangenes Leben hervorzurufen; aus diesem Grund ist Kaffee im Jenseits auch extrem wertvoll) in den Schädeln eines jeden Verstorbenen ins Refrigerium zu schmuggeln, nach einem Weg aus dieser Jenseitsfalle. Andere Verstorbene bekämpfen diese Rauschkultur in Form einer regelrechten Inquisition und katalogisieren alle Informationen über die Sünden der Verstorbenen. Hoch über dem Planeten, der den Großteil des Refrigeriums darstellt, in den Weiten des Weltalls hingegen heimst eine selbsterklärte Elite alle talentierten Neuankömmlinge sowie sämtliche wertvolle Ressourcen (den Verstorbenem folgenden auch ihre wichtigsten Güter mit ins Jenseits) für ihre eigenen Zwecke ein. Bemerkenswert ist auch der Einsatz der jungen Frau Petronille, die sich als einzige Person im Refrigerium standhaft weigert den letzten Schritt des Sterbens zu vollziehen und sich ihr Fleisch und somit auch ihr menschlichen Aussehen bewahrt. Eine wunderschöne junge Frau, wie Petronille, die optisch im so krassen Gegensatz zu alle den Skeletten steht, in ihrer wundervollen Nacktheit bewundern zu können ist ein wahrlich effektives Element, das Liberge hier seinem Werk hinzugefügt hat und ohne dieses hätte es auch einen enorm wichtigen Bestandteil verloren. Diese junge Frau, die egal in welcher dargestellten Pose, einfach immer verführerisch wirkt, stellt in der Geschichte Ihre ganz eigene Partei dar und verdreht ganz einfach durch ihre Anwesenheit sowohl allen anderen Figuren als auch dem Leser selbst den Kopf. Und so stehen wir mal wieder vor der Macht der Weiblichkeit, die allein durch ihre schiere Präsenz so unendlich viel Macht ausübt. Die Tatsache, dass Petronille auch noch in einer Schatztruhe herumreist unterstreicht das Ganze nur noch. 

Dazu passend an dieser Stelle auch ein Zitat von William Blake:

„Die nackte Frau ist ein göttliches Werk“.

Wir sehen also an Symboliken, philosophischen, gesellschafts- und glaubenskritischen Fragen und Anregungen zum Nachdenken mangelt es Érik Liberges “Monsieur Mardi-Gras - Post Aus Dem Jenseits“ wahrhaftig nicht und macht es für mich aus diesen Gründen zum bisher intelligentestem Stück Comicwerk, das ich jemals gelesen habe. Meine vollste Hochachtung!

“Post Aus Dem Jenseits“ hat eigentlich nur eine einzige Schwäche und das ist eine fehlende Pointe am Schluss des Bandes, die gewissermaßen das Schicksal von Philibert Etienne und seine Berufung als Postbote des Refrigeriums (also seine Reaktion auf all die unterschiedlichen Strömungen und Eindrücke die er in dem von ihm geschaffenem Alptraum erhält) beleuchtet. Da es sich bei “Post Aus Dem Jenseits“ aber ohnehin um den Prolog zu “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ handelt, finden wir die Antworten auf diese Fragen im vierbändigen Hauptwerk, weshalb ich an dieser Stelle auch dessen Genuss dringend empfehlen möchte.

Zeichnungen

Mit enormem Aufwand, bei dem ein größeres Bild schon mal ein paar Tage bei der Ausgestaltung in Anspruch nehmen kann, zaubert uns Érik Liberge mit “Post Aus Dem Jenseits“ ein groteskes Wunder aus Tinte auf Papier und reiht sich damit unter die erlesene Gruppierung der wahren Meister ein, denen ich eine 10 bei der graphischen Ausgestaltung verleihe, einer Ehre, die wie unsere Stammleser wissen, wir nur äußerst selten gewahr werden dürfen. Ich bin mir sicher, dass dem Gesamtwerk bestehen aus “Post Aus Dem Jenseits" und den vier Teilen “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ viel Vorarbeit beim Finden der richtigen Charakterdesigns und der Gestaltung der Welt vorangegangen sein muss, anders kann ich mir die Wirkung und Eigenständigkeit dieser Schöpfung Liberges nicht erklären. Bis in den letzten Mittelfußknochen und oft mit allerlei wunderlichen Ersatzteilen versehen, gestaltet Liberge seine Skelettfiguren aus, denen er trotz aller Knochigkeit noch Mimik zugesteht. Auch wenn ich diesen Schritt befürworte, so hätte es mich dennoch interessiert, wie “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ und “Post Aus Dem Jenseits" geworden wären, hätte man auf die ausdrucksstarken Gesichter und ihre Gefühlsäußerungen verzichtet. Effektiv sind oft auch ganz einfache Umsetzungen, wie der Einsatz einer weißen Iris auf schwarzen Grund (im Gegensatz zu den normalerweise weißen Augäpfeln) bei den kürzlich Verstorbenen, wie der bezaubernden Figur Petronille.

Das Refrigerium, welches den Schauplatz von “Post Aus Dem Jenseits“ und auch den Nachfolgebänden bildet, rekrutiert sich aus öden staubtrockenen und leeren Mondlandschaften bis hin zu gigantomanischen, skelettgleichen Metropolen, die in ihrem Aufbau den labyrinthartigen Horror-Kerkervisionen eines Giovanni Battista Piranesi gleichen und in ihrer unendlichen Größe ehrfurchtgebietend über die Protagonisten und somit auch auf uns Leser hereinbrechen.

Als Schöpfer des Refrigeriums muss Philibert Etienne miterleben, wie diese Alptraumwelt regelrecht aus ihm heraus zum Leben erwacht und Gestalt annimmt.

Veröffentlichung

“Post Aus Dem Jenseits“ erscheint beim Splitter Verlag in Form eines hervorragend verarbeitetem Hardcover Comicbandes (Format: Höhe: 32,2 cm; Breite: 23,2 cm). Die 152 Seiten des Werkes weisen eine sehr gute Druck- und Papierqualität auf. Neben einem einleitenden Text von Comickünstler -und Autor Érik Liberge finden wir im Anhang des Bandes auch ein umfangreiches Interview von Jérôme Marande mit  Érik Liberge aus dem Jahr 2015 sowie einige weitere hochwertige Tuschebilder des Künstlers im Großformat.

Eine kleine Lesevorschau findet ihr auf der Homepage des Splitter Verlages.

Fazit

Érik Liberges präsentiert und mit “Post Aus Dem Jenseits“, dem Prolog zu seiner vielfach hochgelobten Comicreihe “Monsieur Mardi-Gras - Unter Knochen“ ein unfassbar intelligent konzipiertes Meisterwerk der Comicliteratur, dessen vielseitig eingewobene Botschaften aus der Esoterik, des Okkultismus und der Philosophie, eine wahre Wohltat für den interessierten Leser darstellen und gleichwohl wie Dantes Alligheris “Die Göttliche Komödie“ zur richtigen Zeit veröffentlicht auch das Fundament des Glaubens zum Einsturz gebracht hätten. Aber auch vollkommen abseits des grandiosen Inhalts vermag es das französische Comicgenie Liberge mit seinen makaberen, herrlich grotesk-ironischen Skelettfiguren in einer Welt, die einer Liaison von Kafka und Piranesi entsprungen sein könnte, in absolut jeder Hinsicht zu überzeugen.

Verlag/ Label: Splitter Verlag
Autor: Érik Liberge
Veröffentlichung: 01.06.2016
Seitenzahl: 152
ISBN: 978-3-95839-320-2
Altersfreigabe: unbekannt
Webseite: https://www.splitter-verlag.de/post-aus-dem-jenseits.html
Webseite 2: Amazon
Webseite 3: http://ericliberge.blogspot.de/
Copyright Artikelbild: Splitter Verlag GmbH & Co. KG; Dupuis; Érik Liberge
Copyright andere Bilder: Splitter Verlag GmbH & Co. KG; Dupuis; Érik Liberge

  • 9/10
    Handlung - 9/10
  • 10/10
    Intensität und Atmosphäre - 10/10
  • 10/10
    Graphische Ausarbeitung - 10/10
  • 9/10
    Charaktere - 9/10
  • 10/10
    Inhalt - 10/10
  • 10/10
    Druckqualität und Haptik - 10/10
9.7/10

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