Schwierigkeit: Einfach – Mittel
New Game Plus: Nein
Spielzeit: 25-30 Stunden
Getestetes System: Playstation 4
Spielerzahl: 1
Vampir-Spiele haben gerade ja nicht unbedingt Hochkonjunktur. Ein Grund dafür ist bestimmt, dass das Genre vor einigen Jahren im Film-Bereich ja gerade zu Tode strapaziert wurde... Dabei gab es in der Vergangenheit mit Reihen und Titeln, wie “Bloodrayne“ (Remake bitte ?), “Vampire: The Masquerade - Bloodlines“ und “Legacy Of Kain“ einige außergewöhnlich gute Vertreter der blutsaugenden Art im Videospielbereich. Mit dem Rollenspiel “Vampyr“ beehren nun die “Life Is Strange“-Macher Dontnod die Herrscher der Nacht und bieten uns Gamer an der Seite eines blutsaugenden Arztes einen Ausflug in eine verdammt düstere Seite Londons in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges:
Vampire und die Spanische Grippe im nebelverhangenen London
Im Jahre 1918 erwacht der britische Arzt Dr. Jonathan Reid inmitten eines Massengrabes. Vollkommen verwirrt und von einem ungeheuren Verlangen nach Blut getrieben begegnet Dr. Reid ausgerechnet zuerst seiner Schwester, die gerade auf der Suche nach ihrem Bruder war, da sie sich berechtigterweise Sorgen um dessen Verbleib und Gesundheit machte. Noch vollkommen von Sinnen wurde Dr. Reids Schwester auch zugleich zu dessen erstem Opfer... Als Dr. Reid sich aufgrund der lebenspendenden Blutversorgung endlich wieder orientieren kann, schockiert ihn sein furchtbares Handeln, doch allzu viel Zeit bleibt dem talentierten Chirurgen nicht, denn seine schaurige Tat blieb nicht unbemerkt und so heften sich ihm sogleich auch ganze Horden von Häschern an seine Füße, die Dr. Reid am liebsten mit einem Pflock im Herzen sehen wollen. London leidet in dieser Zeit nämlich nicht nur an einer furchtbaren Grippe-Epidemie, sondern auch an einer Vampir-Plage, die die gesamte Stadt in Angst und Schrecken versetzt.
Hilfe bekommt Dr. Jonathan Reid überraschend jedoch von einem Zunftkollegen, dem Chefarzt Dr. Edgar Swansea, der ihn nicht nur vor seinen Häschern bewahrt, sondern dem talentierten Arzt sogleich auch einen Job in seinem Krankenhaus anbietet. Fortan gilt es für Dr. Reid also nicht nur herauszufinden, wer und warum man ihn überhaupt zum Vampir machte, sondern auch an vorderster Front gegen die Krankheiten und Bedrohungen zu kämpfen, die Londons Bürger heimsuchen und ihre Sicherheit bedrohen.
Ärzte, Vampire und das Leid der einfachen Bevölkerung
Schon verrückt, dass ausgerechnet Dr. Jonathan Reid, der Spezialist für Bluttransfusion überhaupt, zu einem blutsaugenden Vampir wird, der dadurch einmalige Einblicke in die Thematik erhält, die ihm ansonsten verborgen geblieben wären. Aber genau dieses Konzept verfolgt “Vampyr“ aus dem Hause Dontnod und bietet uns mit dem englischen Chirurgen, der während des Ersten Weltkriegs massig Erfahrung als Feldarzt sammelte, einen absolut ungewöhnlichen Helden, der mit Ruhe und Verstand und nicht mit brachialer Gewalt und Coolness überzeugt. Neben kühler Kalkulation und medizinischem Fachverstand stehen Dr. Reid im Laufe der Handlung von “Vampyr“ auch immer mehr Vampirfähigkeiten zur Verfügung, die neben Kampffertigkeiten und Stärkung des eigenen Körpers auch Manipulationen des menschlichen Geistes umfassen, die sich zum Zünglein an der Waage über das Schicksal Londons entwickeln. Das hört sich jetzt vielleicht schräg an, genau diese Beeinflussung der einzelnen Bewohner Londons ist aber das Kernelement von “Vampyr“. Ein jeder der besuchbaren Stadtteile Londons verfügt dabei über ein Netzwerk aus Personen, die bei entsprechender Förderung (Quests erledigen, Krankheiten heilen) zur Stabilität des jeweiligen Bezirks beitragen und langfristig für Sicherheit und Frieden sorgen. Wenn man die einflussreichen Bewohner allerdings im Geheimen tötet und aussaugt, wovon man selbst erfahrungstechnisch massiv profitiert (z.B. bringt Euch ein größerer Kampf vielleicht ein paar hundert Erfahrungspunkte, das Aussaugen eines Bürgers bringt Euch schnell aber mal 3.000 EP ein), die Folge ist allerdings das pure Chaos und Leid der Bevölkerung. Spannend wird die ganze Sache zudem dadurch, dass es nur einen Speicherstand gibt, und man somit als Spieler nicht einfach mal nach einer getätigten Wahl den alten Spielstand laden kann, um zu prüfen, welche Folgen denn der andere Entscheidungspfad ausgelöst hätte.
Es ist also absolut an Euch zu entschieden, ob ihr eher Macht sucht, was Euch im Kampf gegen die diversen feindlichen Blutsauger enorm hilft, oder lieber der Bevölkerung helft. Was den Grundtenor des Spiels und den Charakter von Dr. Jonathan Reid angehen, passt das rücksichtslose Vorgehen aber so gar nicht zum Spiel. Beim Zocken war es mir regelrecht zuwider zuerst die Menschen zu fördern, um von ihnen im Anschluss noch mehr Erfahrungspunkte zu erhalten (durch Erledigung von Quest und dem Heilen von Krankheiten steigen nämlich die EP, die die Bewohner Londons geben), da der Charakter von Dr. Reid einfach nicht zu diesem rücksichtslosen Vorgehen passt, denn auch wenn wir als Spieler die Entscheidungen von Dr. Reid treffen, so bleibt sein Charakter doch der eines rechtschaffenen Menschen. Überspitzt ausgedrückt hieße das Menschen erfahrungstechnisch zu mästen, um sie zu ernten, wenn sie besonders ertragreich sind. Vom moralischen Standpunkt her ist das also sehr fragwürdig und hinterlässt beim Spieler womöglich einen unschönen Nachgeschmack.
Abgesehen von diesem Punkt überzeugt “Vampyr“ aber gerade bei Nebenquests und der Darstellung der Figuren mit fantastischem Skript. Diese sind sogar so gut, dass sie selbst die gute, allerdings in kleinster Weise herausragende, Mainstory übertrumpfen. Diese unterschiedlichen, nachfühlbaren Schicksale der einfachen Menschen waren für mich das eigentlich Highlight von “Vampyr“, die mich von der psychisch kranken Patientin, die glaub sie sei ein Vampir (obwohl sie es gar nicht ist, was in einer Welt voller Vampire schon eine Kuriosität ist; die Krankheit nennt man übrigens Cotard-Syndrom), dem Zimmermann mit dem gebrochenen Arm, der seine Familie nicht mehr ernähren kann, bis hin zum linksradikal motivierten Säufer, hervorragend unterhalten und sogar berührt haben.
In Kombination mit der ausgezeichneten Synchro und der stimmigen Ausgestaltung der heruntergekommenen Stadtteile Londons ergibt sich in “Vampyr“ eine exzellente Atmosphäre, das allerdings mehr ein detektivisches, Story-getriebenes Abenteuer und kein actiongeladenes, bluttriefendes Spektakel darstellt, das sogar ohne die gesamte Vampirthematik funktionieren würde. Aus diesen Gründen richtet sich “Vampyr“ definitiv an den Spieler, der auf ruhige, atmosphärische Rollenspiele steht und nicht auf Vampirspektakel mit Blut und Sex en masse.
Gameplay und Kampfsystem
“Vampyr“ ist in erster Linie ein gesprächsbasierendes Detektivabenteuer, in dem ihr in der Rolle des zum Vampir verwandelten Arztes Dr. Jonathan Reed nach Informationen sucht, die den Bewohnern Londons und damit auch Euch selbst weiterhelfen. In diesen Gesprächen stellt ihr bei Gelegenheit (was meist davon abhängt, ob ihr zuvor eine bestimmte Information erlangt habt) die Weichen für das Spielgeschehen beeinflussende Wendungen.
Bei “Vampyr“ geht es aber auch immer wieder ab ins Handgemenge, bei denen sich Dr. Reid erstaunlich gut schlägt, was natürlich auch an seinen diversen, steigerbaren vampirischen Fähigkeiten liegt, die ihn unter anderem Blutlanzen schießen oder Schutzwände aus Blut auffahren lassen. Mit diesen Vampir-Skills sowie einer Auswahl an unterschiedlichen Nah- und Fernkampfwaffen geht es dann den verschiedenen menschlichen und vampirischen Gegnern an den Kragen. Die Kämpfe sind allerdings nicht besonders ausgefeilt und gestalten sich gerade bei Standardbegegnungen als absolut simpel und anspruchslos. Das Kampfsystem ist sogar derart hinter der Qualität des übrigen Spiels, dass ich sagen würde, dass das Spiel ohne Kämpfe sogar profitiert hätte.
Grafik
“Vampyr“ ist kein AAA-Game, sondern ein AA-Game, sprich es stand dem Entwicklerteam von Dontnod in diesem Fall kein umfangreiches Millionenbudget zur Verfügung. Der Vorteil solcher Produktionen ist allerdings der fehlende Erfolgsdruck und die damit gewonnene kreative Freiheit, die man bei “Vampyr“ wirklich in jeder Faser spürt und die dem Spiel letztendlich auch überhaupt erst gewährt aus der Masse herauszustechen. Leider merkt man das fehlend Budget auch an der Grafik, was sich in leicht steifen Gesichtern, sich permanent wiederholenden Gegnertypen und einem etwas matschigen Look wiederspiegelt. Interessanterweise stört dies aber bei der Ausgestaltung der ständig im Nebel verhüllten, heruntergekommenen Stadtteile von London (darunter auch das berühmte Elendsviertel Whitechapel, in welchem die Ripper-Morde stattfanden) in keinster Weise und unterstreicht gar die schummrig-düstere Gesamtatmosphäre des Titels.
Sound
Soundtechnisch brilliert “Vampyr“ in vielerlei Hinsicht. Den Anfang macht hier der absolut stimmige Soundtrack von Olivier Deriviere, der mit Streichinstrumenten ein schaurig-modriges Thema zaubert, das zudem ganz hervorragend zur Darstellung des seuchengeplagten London, kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs, passt. Besonders die Melodie im Pembroke Hospital, eurem Hauptstützpunkt in “Vampyr“, hat es mir mit ihrer wohlig ruhigen Melodie angetan. Neben dem Soundtrack ist aber auch die Synchro (nur in Englisch verfügbar, die Bildschirmtexte sind aber in Deutsch) ganz hervorragend und überzeugt durchgängig vom Protagonisten bis hin zur Nebenfigur. Gerade unserem Dr. Jonathan Reid, der vom englischen Schauspieler Anthony Howell synchronisiert wird, könnte ich mit seiner einfühlsamen und ruhigen Stimme stundenlang zuhören. Den sympathischen Schauspieler findet man interessanterweise in letzter Zeit öfter als Synchronsprecher bei unterschiedlichen Videospielen, darunter auch “Dragon Age: Inquisition“ und “Mass Effect: Andromeda“.
Trophys
“Vampyr“ benötigt zur Erlangung der begehrten Platintrophy einen Spieldurchgang, bei dem man keinen Bürger töten darf. Da Euch somit wertvolle Erfahrungspunkte für die Stärkung von Dr. Reid fehlen werden, gestaltet sich dieser Spieldurchgang schwieriger, als wenn ihr in London für blutiges Chaos sorgt. Da ihr für ein paar Trophies auch die Bevölkerung dezimieren müsst, empfiehlt sich ein zweiter Spieldurchgang, bei dem man durch seine Entscheidungen auch ein verändertes Spielerlebnis bekommt. Ansonsten gibt es noch diverse Collectibles und Gegenstände aufzusammeln, der Rest besteht vornehmlich aus Story-basierten Erfolgen.
Veröffentlichung
“Vampyr“ erscheint für die Playstation 4, den PC sowie die Xbox One. Bei Vorbestellung der Handelsversion erhielt man bei einigen teilnehmend Händlern DLC-Codes ("Die Erbstücke Der Jäger") für Ausrüstungsgegenstände.
Fazit
“Vampyr“ bietet keine brachiale Vampir-Action, sondern erweist sich als atmosphärisch gelungenes Rollenspiel mit Fokus auf Detektivarbeit und einer reichhaltigen Story, die bis in die kleinsten Ebenen toll erzählt wird. Technische Schwächen werden dank einer stimmigen Gesamtatmosphäre ausgeglichen, ledglich das unspektakuläre Kampfsystem wird Spieler mit Action-Anspruch verschrecken, so dass ich “Vampyr“ ausschließlich dem RPG-Genießer empfehlen möchte, der auch mal ein ruhigeres Abenteuer wünscht.
Pro:
- hervorragend geschriebene Charaktere
- stimmungsvolle Synchronisation
- atmosphärischer Soundtrack
Kontra:
- zu simples, kaum motivierendes Kampfsystem
- fragwürdiges Moralsystem
Entwickler: DONTNOD Entertainment
Publisher: Koch Media GmbH
Veröffentlichung: 05.06.2018
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Webseite: http://www.vampyr-game.com
Webseite 2: Amazon
Copyright Artikelbild:Deep Silver, a division of Koch Media GmbH, Austria
Copyright andere Bilder:Deep Silver, a division of Koch Media GmbH, Austria
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