Im reichhaltig illustrierten Buch “Der Schatten Des Golem“, das 2017 beim Knesebeck Verlag erschien, nähert sich die französische Autorin Éliette Abécassis einem alten jüdischen Mythos an. Unterstützung bekommt Abécassis vom bekannten französischen Illustrator Benjamin Lacombe, der mit seinem einmaligen Zeichenstil bereits mehrere Schriftwerke veredelte. Wandeln wir also im Folgenden in den zierlichen Fußstapfen eines kleinen Mädchens, das in den finsteren Zeiten eines Prags im 16. Jahrhundert Zeuge der Entstehung eines mysteriösen Wesens wird, das als letzte, verzweifelte Rettungsmaßnahme vom jüdischen Volk ins Leben gebannt wird:
Handlung
In einem kalten Winter, im Prag des 16. Jahrhunderts, wird die kleine Alchemistentochter Zelmira Zeugin der furchtbaren Anschläge gegen das jüdische Volk, die toleriert vom Herrscher Kaiser Rudolf II. (welcher, wie sein Vater zuvor, in seinem Land, den Juden eigentlich eine sichere Heimat versprochen hatte) und angestachelt von dessen Berater, Bruder Thaddäus, die Juden in der Hauptstadt Böhmens heimsuchen. In der Gestalt des schon zu Lebzeiten vollkommen mystifizierten Rabbi Loews hat das jüdische Volk allerdings einen machtvollen Beschützer, der angesichts dieser bedrohlichen Lage einen gewagten Schritt initiiert und ein Wesen auf die Welt loslässt, das weder lebendig noch tot, geformt aus beseelter Grabeserde, zukünftig für den Schutz seiner Landsleute sorgen soll.
Dieses eigentlich emotionslose Dienerwesen, ein sog. Golem, entwickelt allerdings, als er und Zelmira in verschiedenen Schlüsselmomenten aufeinandertreffen, eine Art Bewusstsein mitsamt geradliniger Emotionen, was dessen Kontrolle erschwert und die unaufhaltsame Kampfmaschine unkontrollierbar inmitten von Prag entfesselt. Doch womöglich birgt diese einzigartige Beziehung zwischen Mensch und belebter Maschine auch die Lösung, bevor es womöglich zur endgültigen Katastrophe kommt?
Ein Diener aus Lehm
Der Golem ist eine gerade in Fantasy-Kreisen seit Jahrzehnten absolut gegenwärtige “Kreatur“, die in unzähligen Büchern, Rollenspielen und weiteren Medienveröffentlichungen vorkommt und längst Teil der Popkultur wurde. Deutlich unbekannter ist allerdings die eigentlich Herkunft dieses Wesens (ich behandle den Golem im Weiteren Text eher als Lebewesen und weniger als Maschine, das meist aus Lehm gefertigte, belebte Konstrukt als lebendig oder tot anzusehen überlasse ich aber jedem Leser für sich) aus der jüdischen Mythologie bzw. Mystik, in der der belebte Lehm-Mensch bereits im Mittelalter Erwähnung findet. Am bekanntesten und wohl auch bedeutendsten ist hier die Geschichte um den schon zu Lebzeiten als Legende verehrten Rabbi Löw, der tatsächlich bis Anfang des 17. Jahrhunderts in Prag wirkte und bis heute als eine der wichtigsten Personen des Judentums gilt und als fortschrittlicher Denker und Reformer in die Geschichte einging.
Die Sage um Rabbi Löw (auch bekannt als Judah Löw oder Jehuda ben Bezae`el Löw) und dem von ihm erschaffenen Golem, welche wir hier in moderner Form von Éliette Abécassis und Benjamin Lacombe in neuinterpretierter Form vorfinden, handelt im Prag des späten 16. Jahrhunderts, in der sich das jüdische Volk (erneut) massiven Anfeindungen (z.B. wurden sie beschuldigt Kinder zu rituellen Zwecken zu opfern) gegenübersah. Nach einer göttlichen Vision erschuf Rabbi Löw mittels “kabbalistischer“ Magie, zusammen mit Helfern, den Golem, eine mächtige, willenlos Kreatur aus Lehm, der ähnlich, wie im Schöpfungsmythos des Menschen in der jüdisch-christlichen Glaubenswelt Leben eingehaucht wurde. Dem "Golem", was man auch mit "unvollendete Masse" aus dem hebräischen übersetzten kann, fehlt zur Vollendung allerdings die unsterbliche Seele.

Zwischen der kleinen Zelmira und dem künstlich ins Leben beförderten Golem entsteht eine besondere Beziehung.
Google = Golem? (Spoiler)
Der Golem erweist sich in dieser bedrückenden Situation zunächst auch wirklich als Retter in der Not; die praktisch unbesiegbare Kampfmaschine gerät im weiteren Verlauf der Geschichte aber außer Kontrolle und wird somit auch für die eigenen Leute zur Gefahr. In Éliette Abécassis` und Benjamin Lacombes Version dieser Geschichte nimmt nun zusätzlich noch das Mädchen Zelmira, die es schafft zum eigentlich leb- und gefühllosen Golem eine waschechte Beziehung aufzubauen, eine wichtige Rolle ein, die der ursprünglichen Geschichte eine neue Note spendiert und diese mit Atmosphäre und Gefühl bereichert. Ähnliche Geschichten, in denen es Menschen (meist Kindern, die noch einen unverfälschten Blick auf das Leben besitzen) gelingt zu vermeintlichen Bestien eine Verbindung aufzubauen gibt es zwar bereits, den Golem-Mythos in Prag allerdings mit diesem Inhalt zu bereichern kann ich nur als gelungen bezeichnen.
Als weniger gelungen, da im vorliegenden Werk nur unzureichend dargestellt, finde ich den Vergleich der Erschaffung des Golems mit unserer Abhängigkeit von Dienstleistern, wie Google, deren Leistungen wir in Bezug auf unsere Lebensqualität, Arbeitserleichterung und Zeitersparnis im Nachhinein teuer mit der Abgabe unserer persönlichen Daten, Analyse unserer Gewohnheiten und Beeinflussung durch personalisierte Werbung bezahlen müssen. Prinzipiell zwar ein potentiell hochinteressanter Stoff, da diese Thematik in “Der Schatten Des Golem“ aber erst gar nicht vollständig in den Fokus gerückt wird und durch die Einbindung des Mädchens Zelmira auch inhaltlich beißt, fällt dieser eigentlich sehr gute Punkt weg. Hier hätte man durch eine Parabel auf "vom Menschen geschaffene" Vorgänge, Maschinen, Algorithmen usw. sehr deutlich zeigen können, wie sehr diese aus dem Ruder laufen und sich gegen ihren Schöpfer wenden können, was in der Gestalt des unaufhaltsamen Golem im mittelalterlichen Prag, vor dem Schatten der Judenverfolgung, sehr einprägsam hätte dargestellt werden können. Ich hätte mir hier also einfach eine erwachsenere Richtung gewünscht, in der neben einer mahnenden Botschaft im Bezug auf die unabsehbare Erschaffung von künstlichem Leben und selbstlernenden Programmen gerne auch die Beziehung zwischen Zelmira und dem Golem hätte mehr Dramatik abbekommen können. Man entschied sich allerdings dazu das Buch eher in Richtung Kinder-/Jugendbuch zu dirigieren, ich hätte mir aber bei dieser absolut brisanten und leider auch immer wieder hochaktuellen Geschichte einfach einen noch intensiveren Ansatz gewünscht.
Um aber nochmal auf Rabbi Löw zurückzukommen: Dessen charakterliche Darstellung - und das sowohl als in Schrift- als auch Bildform - ist in “Der Schatten Des Golem“ wirklich gelungen und lässt den Leser erahnen, welch charismatische Persönlichkeit der jüdische Theologe gewesen sein muss, dessen Ansichten (wie etwa die weitsichtige Bewertung Löw`s, dass sich Wissenschaft und Glaube nicht widersprechen und im Weg stehen sollten, da sie vollkommen unterschiedliche Themen beleuchten) heute genauso wertvoll, wie damals sind. Auch die Darstellung anderer historischer Personen, wie den Astronom Tycho Brahe und Kaiser Rudolf II., finde ich gelungen.

Egal ob in sorgfältig ausgewählten Farben oder in stimmungsvollem Schwarz-Weiß - Benjamin Lacombes fantastische Bilder sind das eindeutige Highlight von “Der Schatten Des Golem" und bereichern die Erzählung massiv.
Illustrationen
Eindeutiges Highlight dieses Buches und zudem auch Mitträger der Handlung sind Benjamin Lacombes fantastische Illustrationen. Mal Schwarz-Weiß, mal komplett in Farbe, immer jedoch voller Intensität, schafft es Lacombe hier den einzelnen Figuren der Geschichte von “Der Schatten Des Golem“ noch mehr Gestalt zu verliehen. Und das gelingt ihm tatsächlich auch besser, als es Autorin Éliette Abécassis schafft, was ich durchaus erstaunlich finde. Mit einem kleinen Touch von Tim Burton, womit einem jedem Bild auch ein gewisser Grad an Melancholie und makabrer Stimmung innewohnt, musterte sich der talentierte Franzose zu einem der gefragtesten Illustratoren, was mich angesichts dieser Werke (Bewertungstendenz eindeutig in Richtung einer “9“, in der Kategorie “Illustrationen") nicht im Geringsten wundert. Wir werden uns in Zukunft definitiv noch mehr aus der Hand von Benjamin Lacombe anschauen, da könnt ihr sicher sein.
Was die verwendeten Materialien und Techniken angeht, so kann ich hier leider nur spekulieren. Ich denke, dass Lacombe zur Erstellung der Schwarz-Weiß-Bilder tatsächlich keine Bleistifte, sondern schwarze Buntstifte benutzt. Die kolorierten Werke sind wohl unter Verwendung von Ölfarben und (Mischtechnik, bei der mit Buntstiften z.B. noch feine Akzente gesetzt werden können)/oder Buntstiften entstanden.
Veröffentlichung
“Der Schatten Des Golem“ erscheint beim Knesebeck Verlag als Hardcover Ausgabe (Format: Höhe: ca. 26,6 cm; Breite: ca. 18,3 cm) mit tollem Prägedruck in Gold, der den Titel und die Ersteller des Buches hervorhebt. Die 184 Seiten des Buches weisen eine gute Druck- und Papierqualität auf. “Der Schatten Des Golem“ ist reich illustriert und enthält insgesamt 10 Schwarz-Weiß, sowie 40 farbige Illustrationen von Benjamin Lacombe, die mal großflächig auf einer Doppelseite (oft sehr ungünstig im Seitenübergang), mal klein, in einer Seitenecke platziert wurden.
Im Anhang des Buches finden sich zudem noch ein Glossar, mit einer Erklärung verschiedener Begriffe, in Bezug auf die Handlung des Buches wichtige historische Daten, Kurzbiographien der Autorin und des Illustrators und das Inhaltsverzeichnis (das hier interessanterweise am Ende des Werkes platziert wurde). Generell trumpft das Werk auch mit einer sehr schönen Aufmachung, mit großen Seitenrändern und gelungenem Design, auf.
Eine sehr gute Leseprobe findet ihr auf der Produktseite des Knesebeck Verlags.
Fazit
“Der Schatten Des Golem“ ist eine leicht abgeänderte Neuinterpretation eines alten jüdischen Mythos aus der Stadt Prag, in der die jüdische Gemeinschaft vor lauter Verzweiflung angesichts erneuter Verfolgung einen drastischen Schritt wagt und mit einem Golem, eine unheilvolle, seelenlose Kreatur, auf die Welt loslässt. Ein junges Mädchen, die auch die Protagonistin dieses Dramas bildet, schafft es jedoch entgegen allen Erwartungen eine Beziehung zu dieser künstlichen “Lebensform“ aufzubauen.
Die Tragik dieser ungleichen Freundschaft hätte das Potential gehabt, dieses Drama vor hochbrisanter historischer Kulisse, mit extrem aktuellem Bezug, noch intensiver werden zu lassen. Auch die Chance das Werk als geniale Parabel über die unvorhersehbaren Folgen übereifrigen, menschlichen Handelns und der Erschaffung von künstlicher Intelligenz bzw. einflussreichen Maschinen/Programmen zu platzieren scheitert leider weitestgehend aufgrund inhaltlicher Entscheidungen. Man entschied sich also die Intensität der Geschichte nicht weiter zu strapazieren und platzierte das Werk, dem meiner Meinung nach mehr Dramatik/Intensität gut zu Gesicht gestanden hätte, eher als Kinder-/Jugendbuch. Für diese Zielgruppen kann ich aber eine absolute Empfehlung aussprechen.
Verlag/ Label: Knesebeck Verlag
Autor: Éliette Abécassis
Veröffentlichung: 30.06.2017
Seitenzahl: 184
ISBN: 978-3-95728-046-6
Altersfreigabe: unbekannt
Webseite: https://www.knesebeck-verlag.de/der_schatten_des_golem/t-1/630
Webseite 2: Amazon
Webseite 3: http://www.benjaminlacombe.com/
Copyright Artikelbild: Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG; Flammarion
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